Die vier Evangelien


Jeder, der Literatur studiert hat, kennt die Textgattungen Erzählung, Roman, Theaterstück, Gedicht, Biographie und andere literarische Formen. Aber für Jesus mußte eine neue, in der Literatur einzigartige Textgattung entwickelt werden: das Evangelium.

Die Evangelien sind keine Biographien, obwohl sie biographisches Material enthalten. Sie sind keine Erzählungen, obwohl sie Gleichnisse Jesu wie z.B. das Gleichnis vom verlorenen Sohn (
Lukas 15,11-32) oder vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,30-37) enthalten, die zu den prägendsten Erzählungen der Weltliteratur gehören. Die Evangelien sind keine Dokumentationen, obwohl sie oft in knappen Worten verdichtete Berichte von vielen Gesprächen und Ansprachen Jesu enthalten. Die Evangelien sind als Texttypus eine Besonderheit der Bibel und haben in der übrigen Literatur keine Parallele.

"Die Evangelien sind die Erstlinge aller Schrift"
Origenes

Es gab in späteren Jahrhunderten natürlich viele Versuche, den Stil der Evangelien nachzuahmen und weitere "Berichte" über das Leben Jesu zu schreiben: Das Buch Mormon und die Neuoffenbarungen von Lorber und anderen falschen Propheten sind solche Versuche in jüngerer Zeit. Auch in den ersten Jahrhunderten tauchten dutzende von weiteren "Evangelien" auf (sog. Pseudepigraphen), die sich meist mit dem Namen eines der Apostel schmückten, um sich Autorität zu verleihen. Diese Bücher sind jedoch mit den Evangelien schon rein literarisch nicht zu vergleichen und konzentrieren sich in legendenhafter Form auf "Sensationsberichte" über Wunder Jesu oder dienen dazu, irgendeine Irrlehre wie z.B. die Gnosis zu stützen. Noch im 16. Jahrhundert wurde ein “Evangelium” von einem Moslem geschrieben, um die Behauptungen des Islam über Jesus zu unterstützen.

Jedes der vier Evangelien hat sein besonderes Gepräge und seine Eigenarten, die sich schon aus dem unterschiedlichen Hintergrund und den verschiedenen Motiven der Autoren ergeben:



Das
Matthäus-Evangelium ist den Überlieferungen der Urkirche nach das älteste der Evangelien, weshalb es auch an die erste Stelle gesetzt wurde. Es wurde nach historischen Berichten der frühen Kirchenväter zwischen 45 und 55 n.Chr. in Judäa geschrieben und richtete sich in erster Linie an ein judenchristliches Publikum, was auch dafür spricht, daß das Matthäus-Evangelium sehr alt ist, da sich ja schon um das Jahr 60 herum der Schwerpunkt des Christentums von den Juden weg zu den Nationen bewegte. Der Autor war der eher unauffällige Jünger Matthäus (vgl. Matthäus 9,9-13), der Steuereinnehmer gewesen war und auch Levi genannt wurde. Dies ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus dem Text, ist aber einhellige Überlieferung der Urkirche. Da Matthäus kein herausragendes Mitglied der Apostel war, würde es sehr seltsam anmuten, hätte man ihm das erste Evangelium zugeschrieben, wenn er es nicht tatsächlich geschrieben hätte. Das Evangelium paßt mit seinem geordneten, klaren Stil und den vielen gewissenhaften Zahlenangaben auch gut zum Wesen des Steuereinnehmers, der als frommer Jude das Alte Testament gut kannte und in seinem Evangelium oft zitiert. Als Beamter Roms mußte Matthäus fließend Griechisch sprechen und schreiben können, da Griechisch Amtssprache im Osten des römischen Reiches war. Nach der Überlieferung der Urkirche hat Matthäus übrigens noch vor seinem Evangelium vorab die Aussprüche Jesu auf Aramäisch festgehalten. Diese sogenannten logia” des Matthäus (gr. für “Worte”) sind allerdings nicht erhalten.

“In der Breite der Konzeption und in der Kraft, mit der umfangreiches Material einer großartigen Idee untergeordnet ist, kann man keinen Schreiber des Alten oder Neuen Testaments, der ein historisches Thema behandelt, mit Matthäus vergleichen.”
Theodor Zahn


Das Markus-Evangelium wurde von Johannes Markus verfaßt, der nicht zu den zwölf Jüngern zählte, aber ein Augenzeuge Jesu war und dem weiteren Jüngerkreis angehörte. So versammelten sich die Jünger in der ersten Zeit im Elternhaus des Johannes Markus (Apg 12,11-12). Es wird teilweise angenommen, daß Johannes Markus mit der seltsamen Erwähnung des jungen Mannes in Markus 14,51-52 von sich selbst spricht. Johannes Markus war ein Neffe des Barnabas. Später war er Mitarbeiter des Paulus und wird in der Apostelgeschichte und den Briefen mehrfach erwähnt (z.B. Kolosser 4,10; Philemon 24). Die zeitliche Einordnung des Markus-Evangelium ist insoweit umstritten, als manche annehmen, Markus habe noch vor Matthäus geschrieben. In der Urkirche war es jedoch unumstritten, daß Matthäus als erster geschrieben hat, so daß ich hier keinen Anlaß für irgendwelche Hypothesen sehe. Klar ist jedenfalls, daß das Markus-Evangelium alt ist und bis zum Ende der fünfziger Jahre des ersten Jahrhunderts geschrieben war. Nach der Überlieferung der Urkirche hat Markus um das Jahr 50 in Rom geschrieben. Während das Markus-Evangelium im wesentlichen dieselben Ereignisse berichtet wie Matthäus und Lukas (93 % des Stoffs von Markus finden sich auch in anderen Evangelien), berichtet Markus doch viele lebendige Einzelheiten, die die anderen auslassen. Man nimmt an, daß sein Evangelium in weiten Bereichen von dem Erleben des Petrus beeinflußt ist, wofür viele Details sprechen - das Verhältnis zwischen Petrus und Markus war zuletzt so eng, daß Petrus ihn in 1.Petrus 5,13 seinen “Sohn” nennt.

“Markus besitzt eine Frische und Kraft, die den christlichen Leser ergreift und ihn sich danach sehnen läßt, mit seinen schwachen Kräften dem Beispiel seines wunderbaren Herrn zu dienen.”
August van Ryn


Das Lukas-Evangelium läßt sich aufgrund der Daten der ebenfalls von Lukas stammenden Apostelgeschichte am genauesten datieren. Der Bericht der Apostelgeschichte endet im Jahr 63, die erste Christenverfolgung unter Nero (64 n.Chr.) und der Märtyrertod des Petrus und des Paulus (66/67) wären von Lukas kaum ausgelassen worden, wenn sie bei Abfassung der Apostelgeschichte bereits geschehen wären. Das vor der Apostelgeschichte geschriebene Evangelium wird daher etwa um das Jahr 60 geschrieben worden sein. Lukas, ein griechischer Arzt aus Antiochia, war ein Mitarbeiter des Paulus, der diesen auf seinen Missionsreisen begleitete. Er ist der einzige Autor der Bibel, der nicht Jude ist. Vielleicht erklärt dies seine besondere Anziehungskraft für uns westliche Erben der griechisch-römischen Kultur und Denkweise. Die Sprache des Lukas-Evangeliums und der Apostelgeschichte ist ein elegantes Griechisch, welches gerade bei medizinischen Begriffen präziser als das der anderen Schriften ist und hervorragend zu einem gebildeten griechischen Arzt paßt. In seinem Evangelium betont Lukas insbesondere die Menschlichkeit und Barmherzigkeit Jesu. Lukas war als einziger der vier Evangelisten möglicherweise kein direkter Augenzeuge - es gibt allerdings eine Überlieferung, nach der Lukas einer der beiden Emmaus-Jünger gewesen sei. Lukas bezieht sich deshalb ausdrücklich auf die Berichte derjenigen, die “von Anfang an” Augenzeugen Jesu waren (vgl. Lukas 1,1-4). Gerade Lukas schätzt korrekte Daten und genaue Recherchen, weshalb insbesondere die Apostelgeschichte des Lukas durch archäologische Funde selbst in winzigen Details bestätigt wurde und auch aus Sicht von Historikern als eines der präzisesten Bücher der Antike gilt.

“Das schönste Buch, das es gibt.”
Ernest Renan


Das Johannes-Evangelium ist mit Sicherheit das letzte der Evangelien und wurde von dem Jünger Johannes in hohem Alter auf der griechischen Insel Patmos verfaßt, wohin er aus Ephesus verbannt wurde. Johannes ist nach der Überlieferung der Urkirche über neunzig Jahre alt geworden. Gegen Ende seines Lebens wurde er nach einem Bericht des Clemens von Alexandria von engen Freunden darum gebeten, sein Evangelium als Ergänzung der Synoptiker zu schreiben. Der Stil und die Wortwahl dieses Evangeliums finden sich nur noch in den Briefen des Johannes wieder. Die Sätze sind oft kurz und einfach, doch je kürzer sie sind, desto tiefgründiger sind oft die darin enthaltenen Wahrheiten. In seinem geistlichen, auf die tiefere Bedeutung von Ereignissen konzentrierten Stil ist das Johannes- Evangelium unverwechselbar. Wegen seiner Betonung der Gottheit Jesu wurde das Johannes- Evangelium von der historisch-kritischen “Theologie” immer möglichst spät ins zweite Jahrhundert datiert und natürlich auch die Verfasserschaft des Johannes geleugnet. 1920 wurde dann allerdings in Ägypten als Grabbeigabe in einem Friedhof ein Fragment des Johannes-Evangeliums gefunden, welches auf das Jahr 100 bis 120 datiert wird. Johannes traf im Jahr 69 in Ephesus ein und lebte bis etwa 100 n.Chr. Das Johannes-Evangelium wurde wohl in den Jahren zwischen 80 und 95 n.Chr. geschrieben. Es enthält die Berichte eines Augenzeugen Jesu, der am Ende eines langen Lebens und nach 70 Jahren Christsein nicht mehr nur die äußeren Fakten des Lebens Jesu berichtet, sondern sich vor allem mit ihrer tieferen Bedeutung beschäftigt.

“Das tiefgründigste Buch der Welt.”
A.T. Robertson


Warum gibt es vier Evangelien ? Warum nicht nur ein einziges langes Evangelium, in dem man nicht so viel zu wiederholen braucht und in dem mehr Raum für weitere Wunder und Gleichnisse gewesen wäre? Die Versuche, die Evangelien zu harmonisieren oder in eines zusammenzufassen, gehen bis ins zweite Jahrhundert zurück. Damals gab Tatian sein "Diatessaron" heraus, dessen Name sich vom griechischen ableitet und so viel wie "durch vier hindurch" bedeutet und eine Art Zusammenfassung der vier Evangelisten darstellt.

Die vier Evangelien ergänzen sich jedoch in wunderbarer Weise, weil sie jedes einen anderen Stil, einen anderen Schwerpunkt und eine andere Sichtweise haben:

Matthäus stellt Jesus als König dar.
Markus stellt Jesus als Knecht dar.
Lukas stellt Jesus als Menschen dar.
Johannes stellt Jesus als Gott dar.

Viele haben eine Parallele zwischen den vier Evangelien und den vier Symbolen bei Hesekiel und in der Offenbarung gesehen (vgl.
Offenbarung 4,7; Hesekiel 1,5 ff.) - dem Löwen, dem Menschen, dem Adler und dem Kalb/Stier.
Diese vier Symbole sind in der christlichen Kunst immer wieder verwandt worden. Der Löwe wird dabei auf Matthäus als das königliche Evangelium bezogen. Der Stier, ein dienstbares Tier, entspricht am ehesten Markus, dem Evangelium des Knechts. Der Mensch ist das Symbol für Lukas, das Evangelium des Menschensohns. Der Adler ist hingegen das Attribut des Johannes als Emblem für seine hohe geistliche Darstellung und Sicht.

Jedes der vier Evangelien richtet sich auch an unterschiedliche Leserkreise:

Matthäus ist das "jüdischste" der Evangelien. Die vielen Zitate aus dem Alten Testament, der Stammbaum am Beginn des Evangeliums etc. können auch von dem erkannt werden, der dieses Evangelium zum ersten mal liest.
Markus hat wahrscheinlich in Rom geschrieben. Es richtet sich an die Römer und an alle, die wie dieses Volk das Handeln stets mehr schätzen als das tiefsinnige Denken. Dieses Evangelium erzählt viele Wunder und nur wenig Gleichnisse.
Lukas wird als das Evangelium der Griechen gesehen, die die griechische Kunst und Literatur liebten. Das Lukas-Evangelium bietet vor allem Schönheit, Menschlichkeit, Stil und literarische Eleganz.
Johannes ist das Evangelium der Tiefsinnigen und der christlichen Denker. Es ist evangelistisch und betont den heilsgeschichtlichen Zusammenhang der Ereignisse.

Ohne jedes von ihnen wären wir viel ärmer. Erst zusammen bilden die Evangelien eine wunderbare Einheit, jedes mit dem eigenen Schwerpunkt - und alle vier ein ganzes Bild.

Gottes Wort ist wahrhaftig !
Ingmar



ZURÜCK ZUR ÜBERSICHT